Vor allem psychische Gewalt hat zugenommen. Das zeigen Zahlen des Zürcher Kinderspitals.
Adrian (Name geändert) sucht Hilfe. Seine Eltern sind getrennt, das Sorgerecht ist eigentlich klar geregelt, aber Konflikte gibt es weiterhin. Ein Elternteil hat ein Besuchsrecht. Doch wann und wie genau sollen die Besuche stattfinden? Adrian muss medizinisch untersucht werden. Aber wer hat dabei das letzte Wort?
Die Eltern streiten. Dazwischen: das Kind.
«Es geht nur noch darum: Wer hat recht? Es geht nicht mehr um die Bedürfnisse des Kindes», sagt Anja Böni. Sie ist Oberärztin am Zürcher Kinderspital und berät Kinder in Not. Kinder wie Adrian, einen Buben im Primarschulalter, dessen Geschichte sie mir erzählt.
Neuer Rekord bei Misshandlungen
Adrian hat Anja Böni selbst angerufen. Er leidet darunter, dass die Konflikte der Eltern über ihn ausgetragen werden. Die Eltern, erklärt Böni, könnten nicht mehr zwischen ihrer Rolle als Ex-Partner und ihrer Rolle als Eltern unterscheiden. «Das Kind ist dann ein Gegenstand in der Auseinandersetzung, kein Mensch mit eigenen Bedürfnissen.»
Eine Grenze, so Böni, sei spätestens dann erreicht, wenn auch die Gesundheit des Kindes Teil des elterlichen Konflikts wird. So wie bei Adrian: Wenn sie über seine medizinische Behandlung streiten, denken die Eltern nicht an ihn – sondern an sich.
Adrians Fall wird als psychische Misshandlung eingestuft. Er ist einer der 625 Fälle von Kindsmisshandlung, die der Opferberatungsstelle des Kinderspitals 2021 gemeldet wurden. Das sind 33 mehr als im bisherigen Rekordjahr 2020 – ein neuer Höchststand also. Die meisten betroffenen Kinder sind im Primarschulalter.
Mehr Misshandlungen in der Pandemie
Zahl der vom Kinderspital Zürich gemeldeten Verdachtsfälle von Kindsmisshandlungen
Die Pandemiesituation, so vermutet die Oberärztin Böni von der Beratungsstelle, habe weiterhin einen negativen Einfluss auf das Kindeswohl. Das, indem sie Geldnot, gesundheitliche Probleme und Stress bei den Eltern erhöhe und gleichzeitig den Kindern Bezugspunkte nehme: Freunde oder Sportvereine etwa, bei denen sie sich Stabilität und Hilfe holen können.
Die Spitze des Eisbergs
Gleichzeitig gilt wegen reduzierter sozialer Kontakte in der Pandemie noch mehr, was bei den Zahlen zu Kindsmisshandlungen seit je Tatsache ist: Es wird nur gemeldet, was gesehen wird. Viele Fälle bleiben deshalb unerkannt, die Dunkelziffer ist hoch.
«Ich benutze seit Jahren dieselbe Metapher dafür», sagt Anja Böni. «Vielleicht sollte ich mir mal eine neue einfallen lassen. Aber es stimmt einfach: Wir sehen hier nur die Spitze des Eisbergs.»
Diesen Eindruck hat auch Regula Bernhard Hug von der Stiftung Kinderschutz Schweiz. Sie ist von den Zürcher Zahlen nicht überrascht, sieht national einen ähnlichen Trend. «Die Pandemie», sagt sie, «hat die Risikofaktoren für Kindesmisshandlungen erhöht.»
Das spürt Bernhard Hug auch in ihrer täglichen Arbeit. Während jeder Infektionswelle hätten bisher auch die Anfragen hilfesuchender Eltern, Angehöriger und Fachstellen zugenommen. Die Elternbildungskurse des Kinderschutzes – etwa zum Umgang mit Wut gegenüber dem eigenen Kind – seien stets ausgebucht gewesen.
Mehr psychische Gewalt
Neben dem generellen Anstieg fällt bei den Zürcher Zahlen noch etwas Weiteres auf: Auch die Art der Missbrauchsfälle hat sich 2021 verändert. Es gab deutlich mehr psychische Misshandlungen, aber etwas weniger körperliche Gewalt. Die beiden Kategorien machen nun je einen Viertel der Meldungen aus. Der Rest betrifft Fälle von sexuellem Missbrauch und von körperlicher oder psychischer Vernachlässigung.
Psychische Gewalt ist auch ein nationales Problem. Studien aus der Zeit vor der Pandemie zeigten, dass jedes vierte Kind diese schon einmal erfahren habe, heisst es beim Kinderschutz Schweiz. «Je älter das Kind, desto eher wird statt körperlicher psychische Gewalt angewandt», sagt die Leiterin der Geschäftsstelle Regula Bernhard Hug. «Die Wunden sind dann nicht mehr sichtbar, aber immer noch tief.»
Die Zunahme von psychischer Misshandlung beschäftigt die Oberärztin Anja Böni vom Kinderspital Zürich. «Viele Leute denken bei Misshandlung an blaue Flecken und geschlagene Kinder.» Und nicht an tägliches Beschimpfen, Erniedrigen, Drohen.
Vielleicht, sagt Böni am Telefon, seien die steigenden Meldungen zum Thema psychische Gewalt auch ein Anzeichen dafür, dass das Bewusstsein für das Problem steige. Sicher ist sie jedoch nicht.
Hilfe stösst an Grenzen
Die Wörter «vielleicht», «Vermutung» und «Hypothese» fallen häufig im Gespräch mit Anja Böni. Was ihre Fachstelle untersucht, bleibt sonst oft im Verborgenen. Sichere Angaben darüber zu machen, ist schwierig – und Hilfe zu bieten, manchmal auch.
So wie bei Adrian. Dass er sich direkt bei der Opferberatung meldet, ist für jemanden in seinem Alter schon aussergewöhnlich. Dazu kommt, dass Adrian bereits Hilfe hat: Eine Kinderanwältin und ein Psychologe unterstützen ihn. Das sei selten, sagt Anja Böni, und oft etwas von dem, was ihre Stelle den Betroffenen erst vermittle.
Aber trotz aller Hilfe geht die psychische Misshandlung bei Adrian weiter.
Details dazu (wie auch sonst zu ihm) will Böni möglichst wenige nennen. Vor allem ein Elternteil dürfe auf keinen Fall wissen, dass Adrian die Opferberatung kontaktiert habe. Was sie über Fälle wie seinen sagen kann: Es gehe nicht um einmalige Konflikte oder böse Bemerkungen. «Es geht um die durchgängige, immer wiederkehrende Abwertung eines Kindes.»
In solchen Fällen kann auch das Beratungsteam des Kinderspitals – zwei Vollzeitstellen, verteilt auf vier Mitarbeitende – nicht immer etwas tun. «Das System kommt dann an seine Grenzen», sagt Böni. «Das ist der beelendendste Teil dieser Arbeit.»
Die Reue der gewalttätigen Eltern
In anderen Fällen kann die Beratungsstelle aber durchaus helfen: Fachpersonen vermitteln, mit Angehörigen Strategien zum Eingreifen besprechen oder auch einfach einmal nur zuhören. Manchmal macht die Stelle auch selbst Gefährdungsmeldungen bei den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) oder bringt Fälle bei der Polizei zur Anzeige. 2021 waren es 54 Gefährdungsmeldungen und 2 Anzeigen.
Kinderschutz Schweiz setzt dagegen auf Kurse und Präventionskampagnen, um Eltern von gewalttätigem Verhalten abzubringen. Wer seine Kinder misshandelt, bereut dies im Nachhinein oft. Davon ist Regula Bernhard Hug überzeugt. «Viele dieser Eltern suchen nach Wegen, um Konflikte ohne Gewalt auszutragen.»
Und sei es nur ein Spaziergang an der frischen Luft, bevor man nach einem Streit wieder mit der Tochter redet.
Suchen Sie Hilfe?
sgi. Wer über Kindesmisshandlung sprechen will, wer Beratung braucht, möglicherweise selbst betroffen ist, kann die Hotline der Opferberatungsstelle des Kinderspitals Zürich anrufen: +41 44 266 76 46. Der Kanton Zürich bietet zudem eine anonyme Online-Beratung für Opfer von Gewalt an (onlineopferberatung.ch). Weitere Meldestellen listet der Kinderschutz Schweiz auf seiner Website auf.
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