Das myanmarische Volk hat den Justizapparat jahrzehntelang beargwöhnt. Mit der Demokratisierung kam langsam das Vertrauen zurück. Doch dann kam der Putsch.
Das Verfahren gegen die Ikone der myanmarischen Demokratiebewegung, Aung San Suu Kyi, lässt in die Abgründe der Militärjunta von General Min Aung Hlaing blicken. Mehr als fünfzehn Anklagepunkte liegen gegen die 76-Jährige inzwischen vor. Das Anliegen des Militärs ist so perfide wie offensichtlich: Suu Kyi soll mundtot gemacht und bestenfalls für den Rest ihres Lebens aus der Öffentlichkeit verbannt werden.
Myanmar: Juristen mit Rückgrat riskieren ihr Leben
Der Prozess hinter verschlossenen Türen in der Hauptstadt Naypyidaw steht denn auch exemplarisch für den Verfall des myanmarischen Justizsystems seit dem Coup d’État am 1. Februar vergangenen Jahres. Es gibt in Myanmar zwar noch immer Rechtsanwälte, Richter und Staatsanwälte, die versuchen, ihrer Arbeit integer und unabhängig nachzugehen. Ihre Zahl schrumpft jedoch, denn sie riskieren damit ihr Leben.
Denn das Militär schreibt die Gesetze zu seinen Gunsten um. Das «Cybersecurity Law 2022» zum Beispiel untersagt die Nutzung von einem virtuellen privaten Netzwerk (VPN), das Überwachung und Zensur durch den Staat umgehen kann. Wer dennoch auf ein VPN zurückgreift, kann für bis zu drei Jahre im Gefängnis landen. Das Gesetz wird bereits angewandt, obwohl es sich bis anhin nur um einen Entwurf handelt. Und seit 27. Januar können all jene, die im Stillen etwa durch die Schliessung von Geschäften gegen das Regime protestieren, zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt werden. Es spielt also keine Rolle, ob man laut oder leise gegen die Junta demonstriert – inhaftiert wird man auf jeden Fall.
«Das Militär versucht systematisch all jene, die als prowestlich und reformorientiert im Justizapparat sowie an den juristischen Fakultäten des Landes gelten, auszusortieren», sagt der Rechtsprofessor Jonathan Liljeblad von der Australian National University, der das Justizsystem in Myanmar erforscht. Liljeblad ist in Myanmar auf die Welt gekommen, bevor er in Europa sowie in Amerika aufwuchs und ausgebildet wurde.
Das zweischichtige Justizsystem in Myanmar fördert Duckmäusertum
Bis zum Putsch hatte sich das myanmarische Justizsystem noch auf einem guten Weg befunden. Nach Beginn des Demokratisierungsprozesses 2011 haben zahlreiche Länder und internationale Organisationen beim Aufbau eines rechtsstaatlichen Systems geholfen. Auch Liljeblad zog es immer wieder in seine alte Heimat, um Strukturen für Menschen- und Umweltrecht zu schaffen. «Es ist viel Positives geschehen. Die myanmarischen Vertreter des Rechtssystems sind immer vertrauter mit internationalen Gepflogenheiten geworden. Sie haben sich mit ihren Kollegen in Asien ausgetauscht», sagt Liljeblad am Telefon.
Liljeblad weist darauf hin, dass es auch vor dem Putsch noch zahlreiche Schwierigkeiten gegeben habe. «Die strukturellen Probleme, die sich über Jahrzehnte aufgebaut haben, lassen sich nicht innert weniger Jahre beseitigen.»
In Myanmar existierte nach der Demokratisierung ein zweischichtiges Justizsystem. Die obere Entscheidungsebene war während der Diktatur des Militärs ausgebildet worden und hatte zu jener Zeit ihre Seilschaften geknüpft. Die untere Ebene war bei ihren Beförderungen von den Entscheiden der tonangebenden Elite abhängig. Ein solches System fördert Duckmäusertum: Wer gegen die Oberen aufbegehrt, hat seine Karrierechancen verspielt.
Erschwerend kamen die niedrigen Saläre hinzu. «Erst 2014 hat man damit begonnen, die Löhne zu erhöhen», sagt Liljeblad. Davor verdienten jüngere Richter ohne langjährige Berufserfahrung gerade einmal zwischen 400 und 500 Dollar monatlich. Sie waren gezwungen, sich Einnahmequellen ausserhalb ihres eigentlichen Berufs zu suchen. Andere haben sich die Urteilsfindung finanziell vergolden lassen. «Recht» bekam oft jener, der über ausreichend Geld verfügte und sich das Urteil erkaufen konnte. «Die Bevölkerung Myanmars hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht auf die Justiz verlassen können und sich deshalb von ihr abgewandt. Ironischerweise sind die myanmarischen Bürger trotz einem autoritären System zu Libertären geworden», sagt Liljeblad.
Die Jurisprudenz hatte ein solch desaströses Renommee in Myanmar, dass nur wenige Rechtswissenschaft studieren wollten. «Die Besten eines Jahrgangs studierten Medizin, die Schlechtesten Jura», sagt Liljeblad. Entsprechend eilte auch dem Lehrpersonal an den juristischen Fakultäten ein übler Ruf voraus.
Tagsüber klingelt die Polizei, nachts schaut das Militär vorbei
Das myanmarische Justizwesen hatte nicht immer eine solch katastrophale Reputation. In den Dreissigern und Vierzigern des vergangenen Jahrhunderts hatte sich Myanmar am indischen Rechtssystems orientiert. Und wenn man sich im Nachgang die damaligen Beweisführungen und Urteilsbegründungen durchlese, falle einem das einst hohe Niveau auf, sagt Liljeblad.
Nicht von ungefähr waren die führenden Köpfe der indischen Unabhängigkeitsbewegung wie Mahatma Gandhi, Muhammad Ali Jinnah oder Jawaharlal Nehru Juristen, was dem myanmarischen Militär nicht verborgen geblieben war. Bei seinem Putsch 1962 säuberte es den Justizapparat, um sich unliebsamer Kritiker zu entledigen. Sechs Jahrzehnte später leidet die Justiz Myanmars noch immer unter der Zerschlagung eines einst intakten Systems.
Die grosse Frage bleibt, wie der myanmarische Justizapparat nach dem Putsch mit den Tausenden Inhaftierten verfährt. Laut der Menschenrechtsorganisation Assistance Association for Political Prisoners sind neben den rund 1500 durch das Militär getöteten annähernd 12 000 Personen verhaftet worden.
Es gibt in Myanmar eine zynisch anmutende Daumenregel. Wer tagsüber verhaftet wird, darf noch die schwache Hoffnung haben, auf Basis des Zivilrechts verurteilt zu werden, denn am Tag dringt die Polizei in die Häuser ein. Das Militär führt dagegen nachts die Verhaftungen durch. Und in Myanmar ist zu hören, dass dieser Umstand einem Todesurteil gleichen könne.
Die Warnung kommt nicht von ungefähr: Das Militär beruft sich bei seinen Razzien auf das Kriegsrecht. Jeder vom Militär Verhaftete gilt als Terrorist. Die Festgenommenen landen oft vor einem Militärgericht und laufen dort Gefahr, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
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