Die neusten Entwicklungen
Bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres löst Russland mit einem Truppenaufmarsch nahe der Grenze zur Ukraine grosse Besorgnis aus. Was ist über die Lage bekannt, und welche Interessen verfolgt Moskau? Ein Überblick.
Satellitenbild von der Luftwaffenbasis Sjabrowka, 25 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt.
AP
Die neusten Entwicklungen
- Satellitenbilder enthüllen einen neuen Militärstützpunkt, den Russland in nur 25 Kilometern Entfernung von der ukrainischen Grenze errichtet hat. Die am Donnerstag vom privaten Satellitenbetreiber Maxar gemachten Aufnahmen (vgl. Bild oben) zeigen den aus der Sowjetzeit stammenden, bisher kaum noch benutzten Luftwaffenstützpunkt Sjabrowka (Pribytki) im Osten Weissrusslands. Darauf sind Dutzende von gepanzerten Fahrzeugen, Truppenzelte für mehrere tausend Mann und ein grosses Feldlazarett erkennbar. Die Anlage ist wegen ihrer Nähe zum Grenzübergang beim russisch-weissrussisch-ukrainischen Dreiländereck von Bedeutung für allfällige Kriegsplanungen. Erste Anzeichen für Truppenverschiebungen auf diese Basis hatte es vor ein paar Tagen gegeben. In sozialen Netzwerken veröffentlichte Videos deuten darauf hin, dass es sich um ein Lager der russischen Luftlandetruppen handelt.
Maxar
Verteidigungsministerium Russland
Ausschnitt aus dem Satellitenbild von der Basis Sjabrowka (links), russisches Feldlazarett in einer Archivaufnahme (rechts).
MaxarVerteidigungsministerium Russland
- Neunstündige Gespräche in Berlin zwischen Vertretern Russlands und der Ukraine haben keine erkennbaren Fortschritte gebracht. Bei dem Treffen im sogenannten Normandie-Format nahmen je ein hoher Berater der Präsidenten Putin und Selenski sowie Vertreter Frankreichs und Deutschlands teil. Es seien schwierige Gespräche gewesen, hiess es seitens der deutsch-französischen Vermittler in der Nacht auf Freitag (11. 2.). Dabei seien die unterschiedlichen Positionen und verschiedene Lösungsoptionen deutlich herausgearbeitet worden. Ein weiteres Treffen wurde für den März vereinbart.
- Die britische Aussenministerin Liz Truss macht Russland schwere Vorwürfe. Moskau müsse seine «Kalter-Krieg-Rhetorik» aufgeben und ernsthafte Verhandlungen aufnehmen, forderte Truss bei einem Treffen mit dem russischen Aussenminister Sergei Lawrow am Donnerstag (10. 2.) in Moskau. «Es gibt einen alternativen Weg, einen diplomatischen Weg, der Konflikt und Blutvergiessen vermeidet. Ich bin hier, um Russland zu drängen, diesen Weg einzuschlagen.» Sie warnte mit Nachdruck vor einem russischen Angriff. Lawrow seinerseits warf Truss in Anwesenheit der Medien vor, unvorbereitet nach Moskau gereist zu sein. Er zeigte sich sichtlich verärgert – und deutete an, dass Truss für ein solches Gespräch gar nicht hätte anreisen müssen. «Ich habe lange nicht mehr an diplomatischen Verhandlungen teilgenommen, die man mit Live-Übertragung hätte führen können», schimpfte der 71-Jährige, Europas dienstältester Aussenminister.
- Russland und Weissrussland haben am Donnerstag (10. 2.) offiziell die Hauptphase ihrer Grossübung «Bündnis-Entschlossenheit 2022» begonnen. Sie soll zehn Tage dauern. Nach Weissrussland gereist ist auch der russische Generalstabschef Waleri Gerasimow. Wegen der umfangreichen Verlegung von russischen Einheiten in das Nachbarland herrscht in westlichen Hauptstädten die Sorge, dass die Übung als Deckmantel für einen Angriff auf die im Süden angrenzende Ukraine dienen könnte. Weitab von den offiziellen Übungsstandorten haben russische Truppen Militärlager in der Nähe der ukrainischen Grenze errichtet. Ausländische Beobachter wurden zu dem Grossmanöver nicht eingeladen. Russland begründet dies damit, dass weniger als 13 000 Mann teilnähmen – ab dieser Gesamtzahl wäre eine Zulassung von Beobachtern gemäss einem europäischen Regelwerk aus dem Jahr 2011 verpflichtend. Die Nato spricht jedoch von 30 000 russischen Militärangehörigen in Weissrussland. Mit Spannung wird beobachtet, ob die russischen Truppen, wie offiziell angekündigt, am 20. Februar die Heimkehr antreten werden oder ob Moskau Militärmaterial und Personal auf neuen Stützpunkten zurücklassen wird. Videobilder von den teilnehmenden Land- und Luftstreitkräften veröffentlichte am Donnerstag der russische Militärsender TW Swesda:
- Russland führt Truppen näher an die ukrainische Grenze heran. Militärexperten haben in jüngster Zeit an verschiedenen Abschnitten auffallende Truppenbewegungen in Richtung Grenze festgestellt und dabei mehrere bisher unbekannte Armeestellungen identifiziert. Die Entwicklungen lassen den Schluss zu, dass Russland Truppen und Kriegsmaterial von seinen grösseren Stützpunkten in der Region, die sich meist mehr als 100 Kilometer von der Grenze entfernt befinden, in eine Distanz von nur noch 15 bis 30 Kilometern schafft. Beispielsweise zeigten am Dienstag (8. 2.) veröffentlichte Videoaufnahmen eine Ansammlung von Artillerie und Militärlastwagen im Ort Wesjolaja Lopan in der westrussischen Provinz Belgorod. Weitere Bewegungen wurden in der benachbarten Provinz Kursk im Raum Rylsk registriert. In sozialen Netzwerken verbreitete Aufnahmen belegen ferner einen Truppenaufmarsch bei der Stadt Millerowo, die sich nahe an der Separatistenprovinz Luhansk befindet. Nachdem am Wochenende bereits umfangreiche Verschiebungen vom Stützpunkt Jelnja in die Grenzprovinz Brjansk entdeckt worden waren, scheint Russland solche Bewegungen nun der gesamten Grenzlinie entlang zu vollziehen. Die neuen Armeestellungen sind so nahe an der Grenze, dass sich bereits ukrainische Ziele in Reichweite vieler Artilleriesysteme befinden.
Warum wird ein Angriff auf die Ukraine befürchtet?
Ungewöhnliche russische Truppenbewegungen nahe der Grenze zur Ukraine lösen seit dem Herbst 2021 wachsende Befürchtungen über einen bevorstehenden Grossangriff aus. Es ist bereits die zweite solche Krise innerhalb eines Jahres: Im März und im April hatte Russland laut westlichen Einschätzungen innert Wochen seine Truppenpräsenz in der Region verdoppelt, auf mutmasslich mehr als 100 000 Mann. Nach einem vorübergehenden Rückgang ist der Umfang der russischen Streitkräfte entlang der Grenze zur Ukraine nun sogar noch höher.
Die ukrainische Militärführung spricht unter Mitberücksichtigung von Einheiten der russischen Marine und der Luftwaffe von 130 000 Mann. Dies deckt sich mit Einschätzungen der amerikanischen Regierung. Parallel zum Truppenaufmarsch haben die Spannungen an der Frontlinie zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Separatisten in der ostukrainischen Donbass-Region zugenommen.
Russische Truppenverschiebungen (hier auf der Halbinsel Krim) haben Befürchtungen über einen Einmarsch in die Ukraine geweckt.
AP
Für Beunruhigung sorgt ferner die bedrohliche Rhetorik aus Moskau. Im Sommer veröffentlichte der russische Präsident Wladimir Putin einen Aufsatz, in dem er den Ukrainern die Berechtigung absprach, sich als eigenständige Nation zu betrachten. Sein treuer Gefolgsmann, der frühere Präsident Dmitri Medwedew, stellte im Oktober in einem weiteren, mit Schimpfwörtern durchsetzten Artikel die ukrainische Führung als debil hin und bezeichnete jegliche Verhandlungen mit ihr als sinnlos.
Derweil äusserte sich Putin im November in einer Rede vor Diplomaten befriedigt darüber, dass die von Russland hervorgerufene Spannung eine Wirkung im Westen zeige. Das müsse so bleiben. Auf rein diplomatischem Weg gelinge es Russland nicht, sich Respekt für seine «roten Linien» zu verschaffen. Als inakzeptabel bezeichnet Moskau nicht mehr nur einen Beitritt der Ukraine zur Nato, sondern auch die amerikanische Militärhilfe für das Land und die Militärübungen der westlichen Allianz in der Schwarzmeerregion.
Seit längerem wirft Moskau der Führung in Kiew eine kriegslüsterne Politik vor. Dies hat die Befürchtung geweckt, dass der Kreml einen Vorfall im Donbass als Vorwand für eine Militäraktion nutzen könnte. Nach Einschätzung der amerikanischen Regierung ist jetzt, im Laufe des Februars, jederzeit mit einer russischen Aggression gegen die Ukraine zu rechnen.
Was ist über den Truppenaufmarsch bekannt?
Russland zeigt keine Bereitschaft, Transparenz über seine Truppenverschiebungen zu schaffen. Es liegen daher nur bruchstückhafte Angaben vor sowie Erkenntnisse aus Satellitenaufnahmen und Videos in sozialen Netzwerken. Die ukrainische Militärführung schätzte Ende Januar die Zahl der russischen Militärangehörigen in den an die Ukraine grenzenden Regionen auf 13o 000, darunter ein 112 000-köpfiges Kontingent von Bodentruppen. Ein vom 3. Dezember datierendes Geheimdienstdokument der USA spricht vom Potenzial, die russische Militärpräsenz rasch auf 175 000 Mann zu erhöhen.
Nach der neusten Einschätzung der amerikanischen Geheimdienste von Anfang Februar ist diese Zahl zwar noch nicht erreicht. Russland habe die Zahl der sogenannten taktischen Bataillonsgruppen (zu je etwa 800 Mann) in den Grenzregionen aber seit Mitte Januar von 60 auf 83 erhöht; 14 weitere seien auf dem Weg. Das würde bedeuten, dass insgesamt 60 Prozent aller Kampftruppen Russlands auf den Schauplatz Ukraine fokussiert wären. Hinzu kommen Zehntausende von Soldaten in unterstützenden Funktionen. Für das Szenario eines Blitzangriffs auf die Hauptstadt Kiew befürchten die amerikanischen Geheimdienste, dass es den russischen Truppen rasch gelänge, die Stadt zu umzingeln und die Regierung der Ukraine zum Sturz zu bringen.
Russlands Streitkräfte bedrohen die Ukraine aus mehreren Richtungen
Stärke, Standorte und Herkunft der in Grenznähe stationierten russischen Truppen
Ins Gewicht fallen nicht nur die reinen Truppenzahlen, sondern auch die Vielfalt der zum Teil aus Sibirien, Nordrussland und dem Fernen Osten herbeigeschafften Kriegsgüter. Darunter sind Panzer, Artilleriekanonen, Mehrfachraketenwerfer, Kurzstreckenraketen, Flugabwehrsysteme, Mittel zur elektronischen Kriegführung, Maschinen zum Bau von Verteidigungsstellungen und Pontonbrücken. Am Aufmarsch beteiligt sind nebst den Landstreitkräften auch die Luftwaffe und die Kriegsmarine.
Die beobachteten Truppenbewegungen lassen Experten vermuten, dass ein allfälliger russischer Angriff aus drei Richtungen gleichzeitig erfolgen würde:
- von Osten aus Russland und über die russisch kontrollierten Separatistengebiete im ostukrainischen Donbass,
- von Norden über weissrussisches Territorium,
- von Süden über die besetzte Halbinsel Krim sowie mit Landeoperationen vom Schwarzen Meer her.
Prorussische Separatistengebiete
Krim (von Russland annektiert)
Von besonderer militärischer Bedeutung sind die folgenden Elemente:
- Teile der 41. Armee wurden im Frühjahr 2021 aus Sibirien nach Westen verlegt und kehrten nach dem Abschluss des Grossmanövers «Sapad» (Westen) im September nicht wieder auf ihre traditionellen Stützpunkte zurück. Gesichtet wurden Panzer, Panzerhaubitzen, Mehrfachraketenwerfer, Truppentransporter, Lastwagen und weiteres Kriegsgerät. Bei Woronesch, in Luftlinie 160 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, errichteten die Streitkräfte auf dem Truppenübungsplatz Pogonowo ein neues Militärlager. Im Herbst tauchte Kriegsgerät der 41. Armee auf dem weiter nördlich gelegenen Stützpunkt Jelnja auf. Er befindet sich näher an der weissrussischen Grenze, aber immer noch in relativer Nähe zur Ukraine (Luftlinie 240 Kilometer).
Videobilder und Zugverkehrsdaten deuten darauf hin, dass später auch eine motorisierte Brigade von der Grenze zur Mongolei auf diesen Stützpunkt geschafft wurde. Eine ausführliche NZZ-Recherche findet sich hier.
Ein im November veröffentlichtes Satellitenbild gibt einen Überblick über die neuen Teile des Stützpunkts Jelnja. Der Militärfachmann Konrad Muzyka hat darauf unter anderem Kampfpanzer, Panzerhaubitzen, Mehrfachraketenwerfer und Iskander-Kurzstreckenraketen identifiziert.
Ein Vergleich von Satellitenbildern zeigt, dass dieser neue Teil des Militärlagers 2021 gleichsam auf der grünen Wiese errichtet wurde.
- Während die 41. Armee das Militärlager Pogonowo bei Woronesch (s. oben) verlassen hat, sind dort neue Truppen eingetroffen. Experten sprechen von vier taktischen Bataillonsgruppen (je rund 800 Mann). Es handelt sich offenbar um Einheiten der 1. Garde-Panzerarmee, die sonst Hunderte von Kilometern weiter nördlich im Raum Moskau – Nischni Nowgorod stationiert sind.
Das Militärlager Pogonowo bei Woronesch
Satellitenaufnahmen vom 31. Oktober, 26. November, 21. Dezember und 26. Januar
- In der an die Ukraine grenzenden Provinz Brjansk sind an verschiedenen Standorten Militärlager ausgebaut oder neu errichtet worden. Wegen ihrer Nähe zur Grenze löst dies auf ukrainischer Seite Besorgnis aus (Reportage von der Grenzregion hier). Ein Beispiel für die Truppenaufstockung ist die Luftwaffenbasis Klimowo, die sich nur 12 Kilometer von der Grenze entfernt befindet. Sie beherbergt seit kurzem zwei taktische Bataillonsgruppen der 90. Garde-Panzerdivision aus der Provinz Tscheljabinsk im Ural.
Satellitenbilder belegen die Veränderung. Auf einem früher fast leeren Areal ist nun eine dreistellige Zahl von Militärfahrzeugen stationiert:
Der russische Stützpunkt Klimowo
- Die in der Region St. Petersburg stationierte 6. Armee hat ebenfalls Einheiten nach Südrussland verlegt. Westliche Militärexperten entdeckten mittels Satellitenaufnahmen Hinweise auf den Aufbau eines neuen Feldlagers bei Kursk. Auf dem Areal beim Dorf Otreschkowo sollen sich mittlerweile mindestens zwei taktische Bataillonsgruppen aufhalten. Zum ausführlichen Artikel
- Teile der 58. Armee, die sonst im Nordkaukasus stationiert ist, wurden im Frühling auf die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim verlegt. Zunächst entstand auf dem Truppenübungsplatz Opuk ein neues Heerlager, danach wurden Panzer und Artilleriegerät in bedeutendem Umfang auf einer neuen vorgeschobenen Basis bei Nowoosjornoje im Nordwesten der Krim stationiert, in 140 Kilometern Fahrdistanz vom ukrainischen Festland.
Auch von diesem Stützpunkt gibt es Satellitenbilder. Der Vergleich mit 2019 zeigt, dass die Anlage weitgehend neu entstanden ist:
Stützpunkt Nowoosjornoje auf der Krim
- Für eine angebliche Militärübung sind Truppen in grosser Zahl aus dem Fernen Osten nach Weissrussland verlegt worden. Beteiligt sind namentlich Einheiten der 35. und der 36. Armee, die sonst an der Grenze zu China beziehungsweise zur Mongolei stationiert sind. Der Transport von Truppen über so grosse Distanzen – bis zu 9000 Kilometer – kommt nur äusserst selten vor. Durch die Verlegung nach Weissrussland, das mit Russland eng verbündet ist, muss die Ukraine nun auch einen Angriff von Norden her befürchten. Zur ausführlichen Analyse
- Zusätzliche Kampfflugzeuge und Kampfhelikopter, insgesamt Dutzende von Einheiten, wurden auf weiteren russischen Stützpunkten in der Region gesichtet. Laut dem ukrainischen Militärgeheimdienst verfügen die russischen Streitkräfte über 330 Flugzeuge und 240 Helikopter in der Region, gleich viele wie auf dem Höhepunkt der Frühjahrskrise. Diese Zahl hat sich Ende Januar durch die Verlegung von mehreren Dutzend russischer Kampfjets nach Weissrussland weiter erhöht.
- Die Kriegsmarine beteiligt sich ebenfalls an der Drohkulisse. Sechs grosse Landungsschiffe der Nord- und der Ostseeflotte sind unterwegs in Richtung Schwarzes Meer. Die Schwarzmeerflotte hielt im Oktober eine «Invasionsübung» an der Küste der Krim ab, bei der mithilfe solcher Landungsschiffe Schützenpanzer und Truppen an Land kamen. Bilder einer solchen amphibischen Operation hatte das Militär bereits früher veröffentlicht:
Russian Defence / EPA
Welche Motive könnte Russland haben?
Verschiedene mögliche Beweggründe für das russische Verhalten sind angeführt worden:
- Mit Blick auf Amerika will Russland möglicherweise testen, wie viel Rückgrat die neue Führung im Weissen Haus in der Ukraine-Frage besitzt. Präsident Joe Biden hat deutlich gemacht, dass er sein Augenmerk auf China richtet und in Russland nur einen lästigen Störenfried sieht. Als vernachlässigbare Grösse will der Kreml nicht gelten. Putin – von Biden als «Killer» hingestellt – möchte in den USA als Vertreter einer Grossmacht wahrgenommen werden.
- Adressaten sind auch Deutschland und Frankreich, die beiden wichtigsten Vermittler in der Donbass-Frage. Moskau ist unzufrieden darüber, dass Berlin und Paris die Ukraine nicht stärker zu Konzessionen in den Verhandlungen drängen. Für Russland ist klar, dass eine Friedenslösung auf der Grundlage des Minsker Waffenstillstandsabkommens von 2015 gefunden werden muss. Zu diesem Grundsatz bekennen sich zwar auch die beiden EU-Staaten, aber faktisch lassen sie es zu, dass Kiew eine völlig andere Interpretation des Minsker Abkommens pflegt als Moskau. Der Kreml pocht auf eine Autonomielösung für die Donbass-Region. Das stärkste Argument scheint für Russland in dieser Situation, im Westen die Angst vor einer neuen blutigen Eskalation zu schüren.
- Die Drohgesten sind nicht zuletzt ein Signal an die Ukraine selber. In Moskau sind die Hoffnungen verflogen, mit dem früheren Komiker Wolodimir Selenski als Präsidenten eine befriedigende Lösung im Donbass-Konflikt zu finden. In letzter Zeit hat Selenski einen schärferen Kurs gegenüber Moskau und den Separatisten eingeschlagen. Er ging zudem hart gegen den wichtigsten prorussischen Akteur in Kiew vor, den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk. Dies dürfte Putin persönlich empört haben, da er als Patenonkel enge Beziehungen mit der Familie Medwedtschuk pflegt. Erbost ist man in Moskau auch über den Einsatz einer Kampfdrohne gegen eine Artilleriestellung der Separatisten im Donbass Ende Oktober. Der Truppenaufmarsch kann vor diesem Hintergrund als Versuch zur Einschüchterung Selenskis betrachtet werden.
- Auch kriegerische Absichten sind keineswegs auszuschliessen. Die Operationen im April 2021 wirken im Nachhinein wie ein Probelauf für eine Invasion; der neuerliche Aufmarsch seit dem Oktober könnte dazu dienen, Militärmaterial so zu positionieren, dass es im Falle eines politischen Entscheids für einen Angriff bereit wäre.
Was wirft Russland dem Westen vor?
Putin beklagt sich, der Westen ignoriere Russlands Sicherheitsinteressen. Insbesondere kritisiert er, dass Russlands Forderung nach einem Ende der Nato-Osterweiterung abgelehnt worden sei. Zudem beschuldigt er den Westen, keine Rücksicht auf das Prinzip der «Unteilbarkeit der Sicherheit» in Europa zu nehmen. Kein Land dürfe seine eigene Sicherheit auf Kosten der Interessen eines anderen Landes durchsetzen. Der Vorwurf, dass der Kreml dieses Prinzip selber ständig verletzt, ist bisher an der russischen Führung abgeprallt.
Wie reagieren die Ukraine und der Westen?
Die Ukraine und der Westen haben mit einer Mischung aus Appellen, Sanktionsdrohungen und militärischen Vorsichtsmassnahmen auf die Krise reagiert.
- Die USA haben Anfang Februar 2700 ihrer Militärangehörigen nach Osteuropa, konkret nach Polen und Rumänien verlegt. Der von Präsident Biden bewilligte Schritt soll das Bekenntnis der USA zu ihren Bündnispflichten in der Nato unterstreichen. Zudem hat das Pentagon 8500 Militärangehörige in den USA in Bereitschaft für einen Einsatz versetzt. Bis jetzt umfasste die amerikanische Präsenz in Osteuropa knapp 5000 Militärangehörige. Einen Einsatz amerikanischer Truppen aufseiten der Ukraine hat Biden jedoch ausgeschlossen.
- Die USA und die Ukraine haben ihre Kontakte stark intensiviert, mit einer Serie von Treffen und Telefonaten auf der Ebene der Präsidenten, der Aussen- und der Verteidigungsminister sowie der Militärführungen.
- Washington hat die jährliche Militärhilfe an Kiew um 200 Millionen auf 650 Millionen Dollar erhöht. Unter anderem liefern die USA zusätzliche Panzerabwehrwaffen, fünf Helikopter sowie grosse Mengen Munition. Im Rahmen von bereits früher beschlossenen Massnahmen trafen im Herbst auch zwei amerikanische Patrouillenboote für die ukrainische Marine ein. Die USA haben ferner grünes Licht dafür gegeben, dass Litauen, Lettland und Estland Flug- und Panzerabwehrraketen amerikanischer Herkunft an die Ukraine weitersenden können. Eine grosse Zahl von Panzerabwehrwaffen hat ferner auch Grossbritannien geliefert.
- Präsident Joe Biden hat in einer Videokonferenz mit seinem russischen Gegenspieler Wladimir Putin harte Sanktionen für den Fall eines Angriffs auf die Ukraine angekündigt. Die amerikanische Regierung hat die umstrittene Pipeline Nord Stream 2 ins Visier genommen und stellt in Aussicht, weitreichende Strafmassnahmen gegen wichtige russische Banken zu erlassen. Auf diese Weise sollen Russland die wirtschaftlichen Kosten einer Militäraktion vor Augen geführt werden.
- Die amerikanischen und ukrainischen Befürchtungen werden in Berlin nicht im selben Ausmass geteilt. Deutschland hat die Kriegsgefahr monatelang heruntergespielt. Gleichwohl spricht die Regierung Scholz inzwischen von einer sehr ernsten Lage. Sie weigert sich jedoch, sich auf einen Stopp von Nord Stream 2 oder einen Ausschluss Russlands aus dem Zahlungssystem Swift für den Fall einer russischen Invasion zu verpflichten. Auch der Wunsch der Ukraine nach Waffenlieferungen aus Deutschland ist von der alten und der neuen Regierung in Berlin wiederholt zurückgewiesen worden.
- Mit einer Serie von Gesprächen seit dem 10. Januar – bilateral in Genf, multilateral im Rahmen der Nato und der OSZE – haben die USA Bereitschaft zum Dialog demonstriert, ohne auf die Kernforderungen Russlands einzugehen. Ende Januar legten die USA und die Nato Moskau konkrete Angebote für Verhandlungen in den Bereichen Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Massnahmen vor.
- Wegen der Kriegsgefahr zieht eine wachsende Zahl westlicher Staaten Botschaftsmitarbeiter oder zumindest deren Angehörige aus der Ukraine ab. Darunter sind die USA, Grossbritannien, Australien, Kanada und Deutschland. Die USA haben ihre übrigen Staatsbürger in der Ukraine aufgefordert, das Land zu verlassen.
Was spricht gegen das Szenario eines Krieges, was dafür?
Viele Russlandexperten hielten eine neue russische Invasion lange Zeit für eher unwahrscheinlich, aber mit dem wachsenden Truppenaufmarsch hat die Besorgnis zugenommen. Das sind einige der wichtigsten Argumente in der Debatte:
- Obwohl Russland militärisch viel stärker ist als die Ukraine, wäre ein Angriff riskant. Die angeblich 130 000 bis 150 000 Mann in Grenznähe stellen vorläufig keine überwältigende Streitmacht dar, die weite Teile der Ukraine nicht nur erobern, sondern auch halten könnte. Ein Vormarsch könnte sich in die Länge ziehen und dem Westen die Möglichkeit zu einer Reaktion in Form von harschen Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine geben. Die ukrainische Armee gilt nach einer Reihe von Reformen nicht mehr als so veraltet wie 2014.
- Anders als auf der Krim gibt es in der Ostukraine kaum Rückhalt für einen Anschluss an Russland.
- Erhebliche Teile der Bevölkerung Russlands würden skeptisch reagieren. Die Bereitschaft, grosse Opfer – wirtschaftlich und menschlich – für Gebietsgewinne in der Ostukraine zu bringen, ist wohl gering. Das war bei der handstreichartigen Besetzung der Krim anders; dieses Territorium wird von einer grossen Mehrheit als wichtig für die Identität des russischen Staatswesens betrachtet.
- Während der Kreml seit 2014 nur verdeckt im Donbass agiert und die Beteiligung russischer Truppen stets abgestritten hat, würde Moskau mit einem Angriff offen als Aggressor auftreten. Es käme damit international zusätzlich unter Druck.
- Es gäbe eine neue Runde von westlichen Wirtschaftssanktionen, darunter auch schmerzhafte Massnahmen, über die bisher nur diskutiert worden ist. Möglichkeiten sind der Ausschluss Russlands vom internationalen Zahlungssystem Swift, gezielte Sanktionen gegen wichtige russische Banken, der Abbruch des Pipelineprojekts Nord Stream 2 und das Einfrieren von Vermögenswerten regimenaher Magnaten.
Aber auch Argumente für ein Kriegsszenario sind ernst zu nehmen:
- Ungeachtet der martialischen Rhetorik in Moskau über einen «Untergang» der Ukraine könnte für den Kreml bereits ein «kleiner» Krieg mit begrenzten territorialen Zielen attraktiv sein. Strategisch interessant wäre die Schaffung einer Landverbindung zur Halbinsel Krim, die derzeit von Russland her nur per Schiff, Flugzeug und über eine neu erstellte Brücke erreichbar ist. Ein ukrainischer Gebietsstreifen von gut 300 Kilometern Breite trennt die Krim vom russisch kontrollierten Teil des Donbass.
- Ein weiteres Ziel wäre die Wiedereröffnung des Nord-Krim-Kanals, der früher die Wasserversorgung der steppenartigen Halbinsel sichergestellt hat. Die Ukraine blockierte ihn nach dem Verlust der Krim 2014, was für die dortige Wirtschaft ein wachsendes Problem darstellt. Allerdings ist der Kanal allein kein überzeugendes Motiv; Russland könnte das Wasserproblem mit weniger Kosten lösen, als ein Krieg verursachen würde.
- Anstelle einer offenen Invasion könnte Russland Truppen in der Region auch dazu nutzen, verdeckt die prorussischen Separatisten in den «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk zu stärken. Ukrainische Verluste an der Donbass-Front würden die Regierung Selenski unter Druck bringen.
- Putin hat mehrmals die vermeintliche Logik ausländischer Beobachter widerlegt und für militärische Überraschungen gesorgt, namentlich mit dem Feldzug gegen die tschetschenischen Separatisten 1999, dem Krieg gegen Georgien 2008, der Besetzung der Krim 2014 und der Militärintervention in Syrien ab 2015.
- Bei Militärübungen auf der Krim wurde wiederholt ein Angriffsmanöver vom Wasser her und aus der Luft geübt. Es passt schlecht zur offiziellen Rhetorik, dass Russland lediglich defensiv orientiert sei. Es fügt sich vielmehr in die befürchteten Szenarien eines Angriffs auf die Ukraine vom Schwarzen oder vom Asowschen Meer her ein.
Ein russisches Propagandavideo vom April unterstreicht dies:
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