Soll künftig ein von Verwaltung und Parlament unabhängiger Bürgerrat die Allgemeinheit in der Politik vertreten? Dieser Vorschlag in einem NZZ-Gastbeitrag ist gut gemeint, verschärft aber eher ein zentrales Problem unseres Politikbetriebs: die fehlende Leistungsorientierung.
Die Schweiz sollte ihren Erfolgsfaktoren mehr Sorge tragen und ihnen zu neuem Schwung verhelfen. Dies schreibt die NZZ zu Recht und leitet damit in die aufwendig erarbeiteten Reformideen für die Schweiz 2030 der Bonny-Stiftung ein. Als Impuls für die Institutionen unseres politischen Systems wird prominent ein Bürgerrat vorgeschlagen (NZZ 24. 12. 21). Dieser soll von Verwaltung und Parlament unabhängig sein und die Allgemeinheit vertreten. Er evaluiert und kommentiert auf Bundesebene bestehende Vorschläge der Politik und stellt seine Ergebnisse frei zur Verfügung, führt diese in klare politische Positionen über und entwickelt und vertritt allenfalls Gegenvorschläge.
Maximum an Partizipation erreicht
Dieser Vorschlag ist gut gemeint, verschärft aber eher ein zentrales Problem unseres Politikbetriebs. Im politischen System der Schweiz sind die Prozesse der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung bereits mit einem Maximum an Partizipation und Einflussnahme ausgebaut durch Initiativ- und Referendumsrecht, Mitwirkung in Expertengruppen und ausserparlamentarischen Kommissionen, Anhörungen durch die Verwaltung und im Parlament, starken Lobbyismus mit enormen Mitteln und Energie. Und die Schweiz ist stolz auf diese vielfältigen Konsultativverfahren. In guten Zeiten werden damit die verschiedensten Interessen zu gemeinsamen Lösungen zusammengeführt.
Allerdings haben die Partikularinteressen über diese Verfahren auch vielfältige Vetomöglichkeiten. Eine Flut von Initiativen mit einer grossen Vielfalt von Themen hat einen wesentlichen Einfluss auf die politische Agenda. Die Volksrechte werden für Wahlkampf und Werbung in eigener Sache missbraucht. Sonderinteressen absorbieren grosse politische Energien und Aufmerksamkeit. Basisdemokratie wird nicht selten als Selbstzweck zelebriert.
Dies hat Folgen: Durch Überlastung mit aus Sicht von Partikularinteressen gutgemeinten Themen wird nicht selten von den für die Schweiz eigentlichen grossen Fragestellungen abgelenkt. Der Politikbetrieb wird schwerfällig. Es entsteht ein Wildwuchs von Regeln. Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen den Gewalten werden verwischt. Probleme laufen Gefahr, völlig zerredet zu werden. Verschiedentlich entstehen Pattsituationen.
Lösungen kommen überhaupt nicht mehr zustande, Probleme werden bloss noch ausgesessen. Gleichzeitig steigen Komplexität und Interdependenz der Probleme. Die Anzahl der betroffenen Gruppen und Interessen, ja die Bedeutung der internationalen Abstimmung nimmt zu. Der Zeitdruck für Entscheidungen steigt. Die Politik verliert an Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit. Die Regierbarkeit leidet. Beispiele dafür sind etwa das Verhältnis der Schweiz zu Europa, die Energie- und Umweltpolitik oder die Reform der Altersvorsorge.
Vor diesem Hintergrund bedeutet ein Bürgerrat ein weiteres Gremium, das Prüfungen vornimmt, Informationen bereitstellt und alternative Projekte entwickelt. Die Folge wäre eine weitere Komplizierung der ohnehin schon komplexen Prozesse der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung.
Was das schweizerische politische System jedoch wirklich braucht, ist eine Vereinfachung und Steigerung der Effizienz der Entscheidmechanismen, eine grössere Fähigkeit, zu entscheiden und diese Entscheide auch effektiv zu realisieren. Es sollte mehr Energie und Aufmerksamkeit auf eine Steigerung der erbrachten Leistungen, auf die effektiv realisierten Problemlösungen gelegt werden. Also keine weitere Differenzierung der politischen Prozesse, dafür eine stärkere Betonung der Legitimation durch Leistung.
Konkurrenten unserer Form der Demokratie von wachsender Bedeutung und internationaler Beachtung sind technokratisch ausgerichtete politische Systeme z. B. in Südostasien, etwa in Singapur. Dort wird besonderes Gewicht auf die Leistungen der Regierung gelegt, die denn auch bemerkenswert sind. Singapur versucht, die Tugenden einer demokratischen Einbindung mit der Effektivität technokratischer Massnahmen zu vereinen und langfristig zu disponieren.
Die Leistungen der Regierung werden anhand von Leistungskennzahlen gemessen und in regelmässigen Abständen überprüft und beurteilt. Demokratische Feedbacks sind wichtig, um sicherzustellen, dass die Regierung auf dem richtigen Weg ist, doch Demokratie wird nicht als Selbstzweck gesehen und zelebriert.
Konzentration auf das Wesentliche
In diesem Lichte wären Reformen für eine Verwesentlichung der Demokratie in der Schweiz zu diskutieren, nicht noch mehr Mitwirkungsmöglichkeiten. Zu prüfen wären limitierende Mechanismen für Volksinitiativen und Referenden wie z. B. Festlegung der Unterschriftenzahl durch einen Prozentsatz der Stimmberechtigten.
Auch sollte der Bundesrat auf Antrag des Bundesamtes für Justiz seine Prüfpflicht bei Initiativen effektiv wahrnehmen und begründet auch eine Selektion vornehmen. Reformen der Volksrechte müssten in eine Konzentration auf das Wesentliche münden. So wäre z. B. zu prüfen, ob das Gesetzesreferendum auf Vorlagen zu beschränken ist, welche im Parlament umstritten waren, also z. B. ein bestimmtes Quorum nicht erreichten. Dies wäre nicht nur ein Beitrag zur Effizienz, sondern auch ein Anreiz für das Parlament, Kompromisse breit abzustützen.
Die Leistungsorientierung könnte durch eine Versuchsgesetzgebung gestärkt werden, indem in bestimmten Fällen zuerst Erfahrungen mit einer Problemlösung gesammelt werden. Ansätze dazu bestehen bereits durch die Sandbox für Fintech-Innovationen, wo Projekte und Geschäftsmodelle einem realen «Lebenstest» ausgesetzt werden können. Das Volk hätte dann die Möglichkeit, anhand gemachter Erfahrungen zu einem Gesetz Stellung zu nehmen.
Beat Hotz-Hart ist em. Professor für Volkswirtschaftslehre der Universität Zürich. Er war Vizedirektor im Bundesamt für Berufsbildung und Technologie.
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